Konferenz  -  Rückblick  -  28. November 2022

Multiperspektivität in der Zeitenwende – Wie weiter in der kirchlichen Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus?

Rückblick auf die Jahrestagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K+R) am 11./12. November 2022 in Frankfurt/Main

Ambivalenzen von Rassismus- und Antisemitismuskritik nachgehen

Die multiperspektivische Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus – das war das Schwerpunktthema der Jahrestagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K+R) am 11. und 12. November in der Evangelischen Akademie Frankfurt/Main.

Bereits die Grußworte von Daniel Neumann, Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen, Bernhard Maier, der als Büroleiter die kommissarische Oberbürgermeisterin Dr. Nargess Eskandari-Grünberg vertrat, Dr. Johannes zu Eltz, katholischer Stadtdekan in Frankfurt, und Dr. Volker Jung, Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, stiegen unmittelbar ins Thema ein. Daniel Neumann betonte, dass sich Antisemitismus und Rassismus bei aller Unterschiedlichkeit da überschneiden, wo „Menschen zu Anderen gemacht werden“. Besonders der christliche Antijudaismus tradierte eine Identifikation des Judentums mit „Überlegenheit und dem Bösen“. Mit Blick auf die Verantwortung der Kirchen mahnte er zu einer Auseinandersetzung mit Antisemitismus, die zuvorderst bei „den Nächsten“ beginnen müsse. Volker Jung sah die Kirchen ebenso als „Teil des Problems“, wenngleich sie auch „eine Botschaft haben, die zur Lösung weisen kann“.

Dr. Klaus Holz, Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland, hielt die Keynote der Veranstaltung. Er kritisierte eine Dichotomisierung in den Debatten um Rassismus und Antisemitismus. Holz beschrieb einen Rückzug in ein rassismuskritisches und ein antisemitismuskritisches Lager, die in zentralen Fragen wie der Singularität der Shoa oder der Frage nach dem Existenzrecht Israels stark auseinandergingen. Im Ergebnis stehe bei einer grundsätzlich gestiegenen Aufmerksamkeit für beide Themen eine „niederschmetternde Bilanz in der öffentlichen Auseinandersetzung“, so Holz. Als Kernproblem sieht er eine identitätspolitische Aufladung von Antisemitismus- und Rassismuskritik, die es unmöglich mache, bestehende Ambivalenzen auszuhalten. Notwendig sei hingegen eine jeweils rassismus- und antisemitismuskritische Reflexion beim Reden übereinander und bei der Diskussion zentraler Streitthemen.

Im Kommentar zur Keynote stellte Prof. Dr. María do Mar Castro Varela von der Alice-Salomon-Hochschule Berlin die Heterogenität der jeweiligen ‚Lager‘ dar und kritisierte u.a. unter Bezugnahme auf die Diskussionen um den Philosophen Achille Mbembe eine „infame“ Schieflage, in der regelmäßig Vertreter*innen postkolonialer Theorien als ‚antisemitisch‘ dargestellt würden. In der anschließenden Debatte, moderiert von Prof. Dr. Peter Scherle, betonten beide aber, dass ein Lagerdenken aufgebrochen werden müsse. Der Forderung von Klaus Holz, den „Ambivalenzen von Rassismus- und Antisemitismuskritik nachzugehen“, fügte Castro Varela hinzu, dass es nicht nur das „Verstehen des Anderen, sondern auch das Eintreten für den Anderen“ bedürfe.

Die titelgebende ‚Zeitenwende‘ rückte dann vor allem am zweiten Tag in den Fokus. Nach einer Morgenandacht von Mechthild Gunkel, Pfarrerin der Evangelisdch-reformierten Gemeinde Frankfurt/Main, sprach Dr. Volker Weiß darüber, inwiefern die russische Rechte ideologisch auf die hiesige extreme Rechte einwirkt – und umgekehrt, insbesondere vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine. Weiss analysiert dabei auch die teils sich widersprechenden Positionen zum Krieg innerhalb von verschiedenen Strömungen der deutschen extremen Rechten, vom militanten Neonazismus bis hin zur sogenannten Neuen Rechten und der AfD. Vor allem bei den letztgenannten wird Russland recht klar als „letztes Bollwerk gegen Verwestlichung“ verstanden. Unter Bezugnahme auf Aufsätze der sogenannten Konservativen Revolution zeichnete Weiß zudem eine Traditionslinie innerhalb der extremen Rechten, die jenseits der Rassentheorie des NS den „Osten“ als mystischen Ort und Gegenpol zu Rassismus und Aufklärung idealisiert.

Die Geschichte und Gegenwart von antislawischen Rassismus stand im Mittelpunkt einer Podiumsdiskussion, die Sabine Jarosch von der Augustana-Hochschule Neuendettelsau moderierte. Sergej Prokopkin, Aktivist und Mitarbeiter am Osteuropa Institut der FU Berlin, diskutierte mit dem Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Hans-Christian Petersen. Petersen zeichnete die Genese deutscher antislawistischer Politiken seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts nach. Prokopkin nahm vor allem die strukturelle Diskriminierung und stereotype Darstellung von Osteuropäer*innen in den Blick, von der Nachkriegszeit bis hin zu aktuellen Diskursen rund um den russischen Angriffskrieg. In der Diskussion wurde deutlich, dass antislawischer Rassismus in aktuellen rassismuskritischen Debatten nur selten wahrgenommen wird.

Im Anschluss konnten in acht Workshops Diskussionen vertieft und Perspektiven der Teilnehmenden aufgegriffen werden. Diese widmeten sich Themen wie dem Verhältnis von Orthodoxie, Politik und „Russischer Welt“ im Kontext des Ukrainekriegs; der postjugoslawischen extreme Rechte in Deutschland oder Apokalyptik in Texten des rechtsextremen COMPACT-Magazins. Auch die Debatten über israelbezogenen Antisemitismus rund um die Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen sowie das Verhältnis der Kirchen zu Identitätspolitiken wurden aufgegriffen.

Das diesjährige Forum fand statt in Kooperation mit dem Bund der Deutschen Katholischen Jugend, der Evangelischen Akademie zu Berlin, der Evangelischen Akademie Frankfurt, dem Projekt „Weißt du, wer ich bin?“ der ACK, gewaltfrei handeln e.V. und dem Projekt „Demokratie stärken“ im Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der Ev. Kirche in Hessen und Nassau.

Text: Leroy Böthel

Fotos: Siegfried Lustenberger

Grußworte zum Nachlesen

Grußwort Dr. Jung

Grußwort Stadtdekan zu Eltz